„Mir war irgendwie alles egal, was Schule betrifft“
Herausforderung Schulverweigerung: Ein Fachtag in Backnang nahm das Problem aus systemischer Sicht in den Blick
Die große Resonanz des Fachtages „Kein Bock auf Schule?! – Umgang mit passiver und aktiver Schulverweigerung“ spricht Bände: Rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem gesamten Rems- Murr-Kreis und weit darüber hinaus waren der Einladung des Jugendamtes, des Kreisjugendrings und des Staatlichen Schulamts Backnang ins Bürgerhaus gefolgt. Das Thema ist augenscheinlich brisant und betrifft tatsächlich viele: Ungezählte Jugendliche, die der Schule aktiv oder passiv den Rücken kehren. Hilflose Eltern, die mit ihrem Latein am Ende sind. Und zahlreiche Fachleute, Lehrer und Lehrerinnen, sozialpädagogisches Fachpersonal, Beratungsstellen, Ärzte, Polizisten und sogar Mitarbeiter der Ordnungsämter, die allesamt vor einer enormen Herausforderung stehen.
Was macht man mit Kindern und Jugendlichen, die nicht mehr zur Schule gehen oder sich dem Unterricht verweigern? Wie groß ist das Problem? Wie kommt es zum Schulschwänzen und was begünstigt die verweigernde Haltung? Und natürlich: Welche Ansätze und Strategien zeichnen sich für den pädagogischen Umgang mit Schulverweigerern ab?
Der Hauptreferent des Fachtages, der Erziehungswissenschaftler Dr. Thorsten Bührmann von der Universität Paderborn, erforscht das Phänomen seit vielen Jahren. In seinem Vortrag machte er deutlich, dass es genaue Zahlen über das Ausmaß des Problems nicht gibt, Schulschwänzen wird nirgends zentral erfasst. Allenfalls die Zahl der Schulabgänger ohne Schulabschluss kann als Indiz konkret ermittelt werden: weit über 50 000 junge Menschen verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss, etwa 6,5% aller Schulentlassenen. Der Experte geht aber insgesamt von einem weit höheren Anteil der Verweigerer aus, bei 10 bis 20 Prozent liegt seine Schätzung. Fest steht dagegen für den Pädagogen, dass Schulverweigerung nirgends von heute auf morgen entsteht. „Es geht um einen Prozess“, sagt der Wissenschaftler, und wirft als Folie das Bild eines Eisbergs an die Wand: Was wir an der Oberfläche sehen, das sind die auffälligen Formen des Intensivschwänzens, des aggressiven Verhaltens oder des schulischen Versagens. Was wir dagegen nicht sofort erkennen, das sind die anfänglichen Phasen – und die sind weit umfangreicher: geistig abwesend in der Schule sitzen, in sich gekehrt bleiben, nicht mehr mitarbeiten, dann gelegentlich oder fachspezifisch fehlen – und erst am Ende steht das Regelschwänzen.
Handout zum Fachtag Schulverweigerung [.pdf | 4.9MB]
Wer nach den Ursachen des Phänomens sucht, der muss nach Überzeugung von Dr. Bührmann neben personalen auch soziale Einflussgrößen in den Blick nehmen und den gesamten Kontext, die „Systeme“ des jungen Menschen miteinbeziehen: etwa Familie, Schule, Peergroup. Nach einem derartigen „systemtheoretischen“ Grundverständnis gibt es für Schulverweigerung dann kaum noch lineare Erklärungen. Stattdessen gilt es den Blick zu weiten und zu erkennen: Das Problem tritt zwar in der Schule auf, es manifestiert sich dort, aber die Auslöser und Gründe können auch aus den anderen Systemen stammen. So kann etwa in der Peergroup Schulschwänzen oder aggressives Stören zu mehr Macht verhelfen. Für das System Familie könnte die Schulverweigerung eines Kindes so etwas wie eine Schutzfunktion haben, etwa dann, wenn sich die Eltern zu Hause streiten, sobald das Kind die Wohnung verlässt. Schulverweigerung hat aus dieser Perspektive nicht mehr nur mit Schule zu tun. Nimmt man alle relevanten Kontexte in den Blick, so wird man nach Ansicht des Experten am Ende vielfach erkennen, dass die Schulverweigerung letztlich „ein systemlogisches Handeln darstellt und als individueller Lösungsversuch gedeutet werden kann“. Dem oder der Jugendlichen standen ganz offenbar keine anderen „Lösungen“ oder umsetzbare Alternativen mehr zur Verfügung. Nicht mehr in die Schule zu gehen, das war für sie dann der „richtige“, wenn auch letztlich ineffektive Ausweg.
Im Hinblick auf Interventionen und Lösungen plädierte der Referent dafür, nach Störungen in den einzelnen Systemen zu suchen und dort Handlungsalternativen auszumachen. Grundlegend forderte er die Fachleute dazu auf, ihre Rollen bzw. Rollenzuschreibungen zu verlassen: So müsse etwa die Schule von der „Hauptschuldigen“ in Sachen Schulverweigerung zur „zentralen Leitstelle“ der Interventionen werden, eine Kultur des Hinschauens und Wahrnehmens und ein „standardisiertes“ Vorgehen entwickeln. Die Rolle der Jugendsozialarbeit solle sich von der „Problemlöserin“ zur „Prozessmoderatorin“ verändern, so dass von ihr sowohl individuelle Prozesse als auch Veränderungen in sozialen Systemen initiiert und begleitet werden können.
Wie ein derartiger Prozess in realitätsnahen Einzelfällen angestoßen und in konkreten Sozialräumen netzwerkfördernd umgesetzt werden kann, das erprobten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachtags am Nachmittag in verschiedenen regionalen Workshops.
Bei einem „Markt der Möglichkeiten“ in der Mittagspause stellten sich kreisweite Institutionen und Projekte zum Thema vor. Darunter auch das vom Kreisjugendring und den Städten Backnang, Fellbach und Schorndorf durchgeführte Projekt „Die 2. Chance – Schulverweigerung“.
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