„Testfahrt Barrierefreiheit“ – Ein Live-Versuch im Rems-Murr-Kreis von Menschen mit Behinderung
Wie kommen Rollstuhlfahrer in den Bahnhof und zu den Gleisen? Wie kann man mit einem Rollstuhl ein- und aussteigen? Wie findet ein Blinder am Gleis die Tür zum Waggon? Wie lange dauert es, bis ein Mensch mit Behinderung ein und ausgestiegen ist? Um Fragen wie diese ging es bei einer Testfahrt, zu der Betroffene kürzlich die Presse eingeladen hatten.
Das Interesse war erfreulich groß: Gleich vier regionale Redaktionen wollten genau und aus erster Hand erfahren, wie es denn um die praktische Barrierefreiheit im Öffentlichen Nahverkehr im Rems-Murr-Kreis steht. Sie schickten Fotografen an den Bahnsteig und Redakteure und Redakteurinnen mit auf die Testfahrt von Grunbach nach Schorndorf und zurück.
Vorbereitung auf die Gartenschau 2019
Eingeladen zu diesem Live-Versuch hatte der Initiativkreis „Barrierefreiheit für den Rems-Murr-Kreis“ der Diakonie Stetten und des Kreisjugendrings Rems- Murr e.V. . Konkreter Anlass war, dass Volks- und Bahnvertreter ebenfalls eine Testfahrt planten, die der Vorbereitung auf die Gartenschau 2019 im Remstal dienen sollte, die aber gänzlich ohne Menschen mit Behinderungen gedacht war. Dieses Defizit auszugleichen war Absicht des Initiativkreises. Die Mitglieder wollten Informationen sammeln, um auf etwaige Behinderungen beim Bahnfahren hinzuweisen.
Vor Ort trafen sich vier Menschen mit Behinderungen, zwei Rollstuhlfahrer, ein blinder und ein sehbehinderter Kunde des öffentlichen Nahverkehrs, plus vier Unterstützer, und machten die Probe auf`s Exempel.
Ein- und Ausstieg mit Rampe für Rollis
Als kurz vor 9 Uhr die S-Bahn Richtung Schorndorf in Grunbach einfuhr, da war sie noch absolut pünktlich. In Schorndorf angekommen, hatte sie bereits deutliche Verspätung – und der Fahrer einen Anruf der Transportleitung aus Karlsruhe auf dem Handy: Bei mehr als drei Minuten Verspätung fragt Karlsruhe routinemäßig nach. Natürlich konnte der Fahrer die Ursache erklären: Für die Rolli-Fahrer mussten die Helfer beim Ein- und Ausstieg eine Rampe in die offene Waggontür einlegen, der Spalt zwischen Gleis und Wagen und oft auch der Höhenunterschied wäre für die kleinen Vorderräder der Rollis zu groß. Rollifahrer Pascal Kraft berichtet, dass oft das Tragen des Rollstuhls die einzige Lösung ist. Bei ihm geht das, sein Rolli ist leicht und klappbar. Ganz anders sieht das bei KJR-Mitarbeiter Simon Maier aus: Sein elektrischer Untersatz wiegt alleine schon 150 Kilogramm, zusammen mit seinem Besitzer kommt er auf 230 Kilo – eben mal rüber tragen ist da selbst für starke Helfer nicht machbar!
Simon Maier, der als Berufspendler nahezu täglich zwischen Grunbach und Backnang mit der S-Bahn unterwegs ist, hat sich deshalb schon lange eine eigene kleine Alu-Rampe angeschafft, die man zusammenklappen und hinten in den Rollstuhl einschieben kann – eine Spezialanfertigung aus den USA. Wo Rollstuhlfahrer die Auffahrhilfe nicht selber dabei haben- und das ist die Regel -, muss der Zugführer ran und die Rampe, die immer im Führerhaus dabei ist, aus- und einladen. Das allerdings kostet dann noch mehr Zeit, bringt noch mehr Verspätung. Die 10 bis 20 Sekunden, die fahrplanmäßig pro Halt eingeplant sind, reichen da auf keinen Fall.
Keine ertastbaren Leitlinien für Blinde
Auch für blinde und stark sehbehinderte Menschen dauert das Einsteigen etwas länger, zumal dann wenn sie, wie in Grunbach oder Schorndorf, auf dem Boden mit dem Stock nicht ertasten können, wo sich die Türen befinden. „Testfahrer“ Siegbert Schäfer zeigt den Journalisten, wie er als blinder S-Bahn-Kunde die Türen an den Waggons mit den Händen erfühlen muss. Und das sieht nicht nur schwierig aus, sondern auch absolut gefährlich. Schon das ertasten der Bahnsteigkante mit dem Stock sieht riskant aus, weil der Blindenstock an der Außenseite entlang geführt werden muss.
Ohne weiteres machbar – und in den großen Bahnhöfen auch Usus – sind taktile Leitlinien, die genau dort angebracht sind, wo sich für die Sehenden die weißen Grenzlinien befinden. Sie könnten entweder als aufgetragene Markierung, also erhaben, angebracht werden, oder als fühlbare Vertiefung in den Boden eingefräst sein, mit jeweils Markierungen für die Türen der Waggons. Noch aber gehören solche Maßnahmen für Blinde im Rems-Murr-Kreis nicht zum Standard. Dabei hielte sich der Aufwand dafür in absoluten Grenzen, brächte aber einen enormen Zugewinn an Sicherheit für die betroffenen Menschen. Und die sind, darauf wies der stark sehbehinderte „Testfahrer“ Marc Fischer hin, beim eigenständigen Reisen zu 100 Prozent auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen: Auch durch die teuersten Spezialanfertigungen werden Fahrzeuge für sie niemals nutzbar.
Fazit: Es bleibt noch viel zu tun in Sachen barrierefreier öffentlicher Nahverkehr.
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