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Junge Flüchtlinge in Winnenden pauken Deutsch mit einer Rentnerin

Das Projekt wird unterstützt vom „Lokalen Aktionsplan Winnenden“, den der Kreisjugendring organisiert

Deutschunterricht für Flüchtlinge in Winnenden

Langsam bewegt sich der Zeigefinger unter den Buchstaben nach rechts: „Po-lisei“,  „ein-gelei-tet“ , „Tierh-eim“. Das Vorlesen der deutschen Wörter fällt den Sprachschülern noch schwer. Immer wieder rutschen sie beim Lautlesen in die englische Aussprache ab. Begriffe mit „ei“ und mit „ie“ sollten sie unterstreichen und lesen, das war die Hausaufgabe vom letzten Mal. “Weil man das gerne verwechselt“, sagt die Lehrerin. Jetzt sitzen die neun jungen Männer vor ihren mitgebrachten Zeitungsausschnitten, auf denen viele kleine Striche zu erkennen sind, und versuchen Worte zu lesen, die ihnen wie nicht enden wollende Buchstabenketten vorkommen müssen. „Das ist nicht einfach“, beruhigt die Lehrerin. „Wir Deutschen machen viele lange Worte – the germans like to build long words“. Die Schüler lächeln, sie haben den englischen Satz verstanden. Die jungen Männer üben das Lesen mit alten Zeitungen: Winnender Zeitung, Lokalsport. Richtige Schulbücher haben sie keine – und richtige Schüler sind sie auch nicht. Sie besuchen keine echte Sprachschule, und Birgid Weller ist keine echte Lehrerin. Aber richtig gelernt wir trotzdem, heute schon die siebte Lektion.

Engagement im „Netzwerk Flüchtlinge“

Die Szene spielt sich ab in einem kleinen Raum in der Asylbewerberunterkunft in Winnenden. Einmal wöchentlich bietet hier Birgid Weller Deutschunterricht für Flüchtlinge aus aller Herren Länder an, freiwillig, ehrenamtlich – und „mit großer Freude“, wie sie selber sagt. Die ehemalige Krankenhausärztin ist Mitglied im „Netzwerk Flüchtlinge Winnenden“. Das Netzwerk wurde vor etwa drei Jahren vom evangelischen Pfarrer Reimar Krauss initiiert, der im Kontakt mit einigen engagierten Gemeindemitgliedern von deren – bis dahin unkoordiniertem – Einsatz für Flüchtlinge im Flüchtlingsheim erfahren hatte. Heute gehören zwölf Aktive und deutlich mehr Interessierte zum Netzwerk, das sich etwa 5 Mal jährlich in kleineren Runden trifft. Dort hatte der Sozialarbeiter der Flüchtlingsunterkunft angefragt, ob sich nicht jemand für einen Deutschunterricht finden könnte. Und seither hat Birgid Weller dieses Ehrenamt übernommen. „Ich merke schon, dass ich das nicht gelernt habe“, schränkt die engagierte Pensionärin ein, „ z. B. beim Tempo: vielleicht bin ich zu schnell? Aber VHS-Deutschkurse sind für die meisten Flüchtlinge nicht zu bezahlen – also mache ich das – es ist jedenfalls besser als nichts!“, sagt Birgid Weller. Und sie selber könne über die VHS Fortbildungen machen, dafür sei sie sehr dankbar.

“Schlafen, einkaufen, kochen, essen, fernsehen, schlafen“

Deutschunterricht für Flüchtlinge in WinnendenDie anwesenden Schüler kommen aus Pakistan, Afghanistan, verschiedenen Ländern Afrikas. Die meisten haben eine höhere Schulbildung in ihren Herkunftsländern hinter sich und alle sprechen gut englisch – warum jetzt auch noch Deutsch lernen? „Wir wollen ein useful citizen sein“, sagt Nadeem. Und dann drückt er auf englisch seine Überzeugung aus, dass alle, die hier leben wollen, die Sprache können sollten, um etwas Sinnvolles für die ganze Gesellschaft  tun zu können. „Auch wenn Du nicht hier leben willst, ist es gut, die Sprache zu lernen“, meint der Nebensitzer. „Sprachen lernen ist eine Form der Kultur – du könntest überall auf der Welt einen Deutschen treffen und dich dann unterhalten“. „Es ist besser als im Heim zu schlafen!“, bringt es Mudasir auf den Punkt. Sofort pflichten ihm alle lebhaft bei.
Was im Alltag eines Asylbewerbers in Winnenden geht? Die Antworten kommen sofort: “Schlafen, einkaufen, kochen, essen, schlafen, fernsehen, essen, sauber machen“. Mehr ist da nicht. Manchmal, sagen sie,  spielen ein paar miteinander im Hof Fußball. Es wird deutlich: Die Flüchtlinge leben in einer eigenen, abgeschotteten Welt. Kontakt zu Deutschen? Fehlanzeige. „Wir sprechen nie mit Deutschen“, sagt Mudasir, und Birgid Weller nickt vielsagend: „Das Wichtigste wäre, Orte zu finden, wo es Kontakte zu Deutschen geben kann“. Aus vielen Gesprächen weiß die Ehrenamtliche, dass andere Länder gegenüber Flüchtlingen kontaktfreudiger sind: „Wer über Griechenland, Russland, Italien hierher kam, der berichtet oft, dass man dort als Fremder mehr gefragt werde“. Oft scheitern Begegnungen und Kontakte auch einfach, weil es den Flüchtlingen am Geld fehlt – im Sommer zum Beispiel, wenn Freibadbesuche für sie unerschwinglich bleiben. Da wäre es schon eine Hilfe, wenn sich der Gemeinderat entschließen könnte, ihnen wenigstens den Kindertarif einzuräumen.
Und die Kirchen, oder die Moscheen? Drei der jungen Männer sind Christen, sechs sind Muslime. Die Christen nicken: Ja, sie kennen die Kirchen, und ja, sie gehen da auch manchmal hin. Zu Veranstaltungen und Gemeindefesten, so Birgid Weller, werden sie bisweilen auch direkt eingeladen. Die Muslime erzählen, dass sie in die Moschee nach Waiblingen fahren –  in Winnenden sei auch eine Moschee, ja, aber die sei eben türkisch.
Birgid Weller verteilt die neuen Hausaufgaben: W-Fragesätze sollen die Schüler bis zum nächsten Mal aufschreiben: “Wie heißt Du? – Woher kommst Du? ….“.

„Ich würde mich halt nicht wohl fühlen, nichts zu tun!“

Der Deutschunterricht im Flüchtlingswohnheim ist für diese Woche zu Ende. Die Lehrerin packt ein paar abgegriffene Spiele zusammen, die sie auf Flohmärkten ergattert hat. „Auch mit Brettspielen kann man gut die Sprache üben! Wir müssen halt improvisieren“, lacht sie.
Im Rahmen des „Lokalen Aktionsplans Winnenden“, der von Stadt und Kreisjugendring organisiert und vom Familienministerium finanziert wird, konnten die Aktiven im Netzwerk Flüchtlinge kürzlich an einer Fortbildung in der Evangelischen Akademie Bad Boll teilnehmen – eine Maßnahme, in der nicht zuletzt auch Achtung und Bestärkung für den ehrenamtlichen Einsatz der Freiwilligen zum Ausdruck kam. Schwäbisch-sparsam verteilte Anerkennung, die Dankbarkeit der Teilnehmer – reicht das an Vergütung für das ehrenamtliche Engagement? Eindeutig „Ja!“ sagt Birgid Weller. „Ich mache als Rentnerin nur noch das, was mir Spaß macht. Und hier habe ich bisher noch keine Minute bereut“, strahlt sie. Und dann fügt sie noch hinzu: „Ich finde, ich werde mit meiner Rente gut bezahlt. Ich würde mich einfach nicht wohl fühlen, nichts zu tun!“.

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